Zweite Strategiekonferenz
Kinder aus suchtbelasteten Familien - Hilfe hat viele Gesichter
22.1. bis 24.1.2010 in der Heilig Kreuz Kirche in Berlin Kreuzberg
Schirmherrin: Katrin Sass
Die Teilnehmer*innen beim Zusammenstellen der Agenda für die Strategiekonferenz
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Eigentlich ist eine open space-Konferenz eine Dauerpause: Pausen sind zwanglos. Es gibt Kaffee und Brötchen. Man findet sich in kleinen Gruppen von Leuten zusammen, die ein gemeinsames Thema gefunden haben. Und wenn man nicht in der richtigen Gruppe gelandet ist, geht man einfach weiter, bis man Leute findet, die gerade ein spannendes Gespräch führen, in das man sich einklinkt. All diese Merkmale von Pausen gelten für die gesamte Dauer einer open space-Konferenz. Auf diese Weise stehen die Fragen und Bedürfnisse der Tagungsteilnehmer*innen im Mittelpunkt.
So war es auch bei der zweiten Strategiekonferenz „Kinder aus suchtbelasteten Familien – Hilfe hat viele Gesichter“, die vom 22. bis 24. Januar 2010 mit 102 Teilnehmer*innen in der Heilig Kreuz Kirche in Berlin Kreuzberg stattfand.
Eine vorher festgelegte Tagesordnung gab es – wie auch schon bei der 2008er Strategiekonferenz „Wege aus dem Schatten ins Licht – nicht. Nach einem Grußwort von Schirmherrin Katrin Sass und einer kurzen Einführung in das Verfahren durch open space-Begleiter Michael M Pannwitz trugen die Teilnehmenden innerhalb einer halben Stunde 33 Anliegen zusammen, die dann in Arbeitsgruppen auf der Konferenz bearbeitet wurden.
Kinder brauchen Spiel und Spaß: Arbeitsgruppe mit Jerry Moe
Deutlich kristallisierte sich das Bedürfnis vieler professioneller Helfer*innen heraus, sich mit den anwesenden erwachsenen Kindern aus Suchtfamilien auszutauschen. In mehreren Arbeitsgruppen stand der Dialog zwischen Fachkompetenz und Betroffenenkompetenz im Zentrum. „Dieser Austausch mit den erwachsenen Kindern aus Suchtfamilien war für mich besonders wertvoll“, äußerte ein Profi. „Hier war solch eine Offenheit möglich. So einen Erfahrungsschatz habe ich nirgendwo sonst gefunden. Das hilft mir sehr, meine Arbeit besser auf die Bedürfnisse der betroffenen Kinder abzustimmen.“
Die Bedürfnisse der Kinder standen auch bei den Arbeitsgruppen im Mittelpunkt, die der amerikanische Kindertherapeut Jerry Moe vom kalifornischen Betty Ford Center anbot. In insgesamt drei 90minütigen Arbeitssitzungen stellte Moe den Teilnehmenden sein Children’s Program vor:
„Für meine Arbeit ist der Dreh- und Angelpunkt, dass ich alles so mache, dass es den Bedürfnissen und dem Verständnis von Kindern entspricht“, sagte Moe. „Lange haben wir den Fehler gemacht, Programme für Erwachsene umzustricken und sie dann Kindern vorgesetzt. Diesen Weg kann ich nicht zur Nachahmung empfehlen. Um die Kinder wirklich zu erreichen, versuche ich zum Beispiel, die Sucht zu personifizieren. So habe ich eine Figur kreiert: Addiction. Diese Figur spiele ich den Kindern vor. Addiction ist für sie greifbar. Sie lernen, wie die Figur sich verhält, was ihr Kraft nimmt und wann sie Oberwasser bekommt. Und ich zeige Addiction in Interaktion mit einem Menschen, der der Vater oder die Mutter eines der Kinder im Children’s Program sein könnte. So eine Figur hilft den Kindern zu verstehen, dass Sucht eine Krankheit ist, dass sie daran keine Schuld tragen und dass es nicht ihre Verantwortung ist, diese Krankheit zu heilen.“
Gemeinsam mit den Teilnehmenden zeigte Jerry Moe Übungen, anhand derer er Kindern in seinem Programm vermittelt, was Sucht ist und wie sich die Krankheit auf das Verhalten Ihrer Eltern auswirkt. „Es ist wichtig, dass die Kinder es wirklich verstehen, dass ihre Eltern eine Krankheit haben. Wenn ihnen das niemand erklärt, ängstigen sie sich. Wir helfen ihnen im Children’s Program auf spielerische Weise, das oft unberechenbare Verhalten ihrer Eltern einzuordnen."
Mut zu kleinen Schritten machte Sis Wenger
Einen Einblick in die über 25jährige Arbeit der National Association for Children of Alcoholics gab deren Vorsitzende Sis Wenger in ihrer Arbeitsgruppe. Ihr Anliegen war es, die Hilfe für Kinder aus Suchtfamilien herunterzubrechen auf kleine Schritte, die jeder umsetzen kann: „Oft unterbleibt Hilfe, weil Menschen in Schule, Jugendarbeit oder im Gesundheitswesen Angst davor haben, zu intervenieren. Doch wenn wir nichts tun, ist das keinesfalls eine neutrale Handlung. Jedes Mal, wenn wir nichts tun, macht es das Leid der Kinder schlimmer.“
Wenger unterstrich, wie wichtig es ist, dass Kinder suchtkranker Eltern Schule oder Kindergarten als sichere Orte erleben. „Wenn das gegeben ist, kann man das Thema Sucht in der Familie durchaus ansprechen, indem man eine kindgerechte Geschichte erzählt oder ein entsprechendes Buch vorliest. Kinder können in kleinen Schritten etwas über Sucht lernen und fassen Vertrauen, dass sie ihre Lehrer*innen ansprechen können.“
Bei einer open space-Konferenz ist viel Raum für Überraschendes. So tönte am Nachmittag des ersten Konferenztages plötzlich Gesang von der Empore der Heilig Kreuz Kirche. Die Arbeitsgruppe, die sich mit dem Einsatz von Musik in der Kinder- und Jugendarbeit befasste, setzte ihr Thema sogleich praktisch um und füllte den Kirchenraum mit einem afrikanischen Lied.
Bühne frei für das Forumtheater
Wie schon bei der ersten Strategiekonferenz wurde auch dieses Mal wieder ein Angebot gemacht, sich dem Thema familiärer Sucht mit Hilfe von Spieltechniken des Forumtheaters anzunähern. Während im Kirchenschiff und auf den Emporen der Heilig Kreuz Kirche parallel mehrere Arbeitsgruppen liefen, bereitete sich die Theatergruppe unter Anleitung von Spielleiter Stephan B. Antczack in der Apsis auf ihre Präsentation am Abend des zweiten Tages vor. Dann galt es für das Publikum, Szenen aus dem Alltag von Kindern suchtkranker Eltern durch Intervention zu verändern und der Frage nachzugehen: Was hilft? Wer eine Idee hatte, durfte das dann gleich als eingewechselte/r Schauspieler*in ausprobieren.
33 Arbeitsgruppen organisierten sich selbständig auf drei Etagen der Heilig Kreuz Kirche
Ein Gewinn für die Konferenz war die Beteiligung von Vertreter*innen der verschiedenen Sucht- Selbsthilfeverbände: Guttempler, Kreuzbund, Blaues Kreuz und Al-Anon/Alateen waren dabei. Ein Ergebnis des Dialoges über Verbandsgrenzen hinweg war der Beschluss, in der Region Oberfranken eine Kooperation von Blauem Kreuz und Al-Anon einzugehen. Beide Verbände haben in der Region Gruppenangebote für Kinder und Jugendliche.
Als weiteres konkretes Ergebnis der Konferenz wurde in einer Arbeitsgruppe beschlossen, die in den USA und Großbritannien jährlich stattfindende „Children of Alcoholics Week“ zum ersten Mal auch in Deutschland durchzuführen. Mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen soll auf die Situation von Kindern aus Suchtfamilien und die Möglichkeiten der Hilfe hingewiesen werden. Wegen der Kürze der Vorbereitungszeit (die Woche beginnt schon am 14. Februar) wurden für die erste deutsche „Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien“ überschaubare Maßnahmen wie eine Briefaktion beschlossen. Doch soll die Aktionswoche jedes Jahr wiederholt werden und dann auch größeren Umfang gewinnen.
Obwohl mit 33 Arbeitsgruppen ein großes Pensum zu bewältigen war, vergingen die beiden ersten Konferenztage in einer ruhigen und entspannten Atmosphäre. Dazu trug auch der lichte und transparente Kirchenraum bei, dessen hohe Fenster die Januarsonne einfingen. Nach einem Gottesdienst am Sonntagmorgen, ging es in den verbleibenden vier Stunden der Konferenz um die Handlungsplanung. Die Teilnehmer*innen verabredeten sich zu elf Vorhaben, die nach der Konferenz gemeinsam weiter verfolgt werden sollen. Jede/r Teilnehmer*in nahm mit der Dokumentation aller Arbeitsgruppen eine fast 90seitige Ideensammlung mit nach Hause und eine Kontaktliste mit über hundert Namen.
Die Grundstimmung bei der Abschlussrunde war bestimmt von Zufriedenheit und Dankbarkeit vor allem für die Beiträge der beiden amerikanischen Teilnehmer. Ein Teilnehmer sprach für viele andere: „Ich habe immer gehört, dass die Amerikaner uns beim Thema Kinder aus Suchtfamilien so weit voraus seien, aber ich wusste nie, was genau damit gemeint war. Jetzt weiß ich es, und ich finde, wir können von der amerikanischen Herangehensweise viel für die Arbeit hier in Deutschland lernen.“ Und auch Zuversicht wurde geäußert: Es lohnt sich, sich für Kinder aus Suchtfamilien zu engagieren. Zusammen geht es leichter.
Mitveranstalter der Strategiekonferenz war die
Die Strategiekonferenz "Kinder aus suchtbelasteten Familien - Hilfe hat viele Gesichter" wurde gefördert von der Selbsthilfe-Fördergemeinschaft der Ersatzkassen. Dies sind:
Techniker Krankenkasse (TK)
Gmünder ErsatzKasse (GEK)
HEK - Hanseatische Ersatzkasse
Hamburg - Münchner Krankenkasse (HMK)
Weitere Förderer waren:
Kurt Graulich Stiftung
Checkpoint Charlie Stiftung