Der Elch im Wohnzimmer

Wenn Eltern süchtig sind, gelten in der Familie seltsame Regeln  

elch

Stell dir vor, bei euch stünde ein ausgewachsener Elch im Wohnzimmer. Das Tierchen riecht recht streng, beansprucht eine Menge Platz, und sobald es sich bewegt, geht jede Menge Zeug zu Bruch. Der Elch ist Dauergast bei euch. Stell dir vor, dass es in deiner Familie ein geheimes Abkommen gibt, dass niemand jemals darüber sprechen darf, dass da ein Elch im Wohnzimmer steht. Bei Strafe strengstens verboten! Alle müssen so tun, als wäre der Elch nicht da. Und alle halten sich auch daran. Wenn er auf den Boden scheißt ... Husch, husch, wird der Mist beseitigt, ohne Aufsehen zu erregen. Die Familie hat keinen Platz mehr, um gemeinsam zu Abend zu essen, weil der Elch so riesig ist. Jeder quetscht sich in eine Ecke und tut so, als wäre alles in bester Ordnung. Kannst du dir vorstellen, wie sich die Kinder in der Familie nach einer Woche fühlen? Nach zwei Wochen? Nach drei? Wahrscheinlich würden sie ihre Eltern am liebsten laut anschreien: "Schafft endlich den verdammten Elch raus!" Aber: Es gilt ja die geheime Regel: kein Wort über den Elch!

Was hat diese Geschichte mit Sucht in der Familie zu tun? Eine ganze Menge. In Familien, in denen Vater oder Mutter alkoholkrank, tablettenabhängig oder drogensüchtig sind, geht es genau so zu: Alle sehen und fühlen, dass da ein Riesenproblem im Raum steht, aber keiner spricht darüber. Und weil keiner darüber spricht, tut auch niemand etwas, um das Problem zu lösen. Gefühle kommen hoch: Ohnmacht, Wut, Verzweiflung, Traurigkeit, Schmerz, Angst. Aber die dürfen alle nicht ausgedrückt werden. Normalerweise würde ein Kind unter solchen Umständen schreien vor Wut, heulen, sich beklagen ... Aber: Es gilt ja die Regel: Niemals den Elch erwähnen!

Sucht ist eine Krankheit. Wenn jemand alkoholabhängig ist, heißt das nicht, dass er ein schlechter Mensch ist oder dass er willensschwach wäre. Dieser Mensch hat eine Krankheit. Das Symptom dieser Krankheit ist, dass er nicht mit dem Trinken aufhören kann. Und er tut Dinge, die er nie tun würde, wenn er nicht alkoholkrank wäre: Zum Beispiel beschimpft er im Rausch die Menschen, die er am meisten liebt: seine Kinder. Und die Kinder glauben dann häufig, dass sie am Trinken des Vaters oder der Mutter schuld sind. Das ist natürlich völliger Quatsch. Kinder sind nicht schuld an der Sucht ihrer Eltern. Die Kinder sind auch nicht die Ursache der Sucht.

Oft aber schämen sich Kinder sehr für die Suchtkrankheit ihrer Eltern und fühlen sich auch für ihre Eltern verantwortlich. Sie übernehmen zu Hause viele Dinge, die eigentlich Aufgabe der Eltern sind. Sie machen den Haushalt, kümmern sich um die kleinen Geschwister. Manchmal holen sie sogar den Alkohol für die Eltern. Oder sie versuchen im Gegenteil herauszufinden, wo der alkoholkranke Elternteil den Alkohol versteckt hat, um ihn wegzuschütten. Ein alkoholkranker Mensch wird aber immer Wege finden, wieder an Alkohol ranzukommen und ihn noch raffinierter zu verstecken. Kinder können die Sucht nicht kontrollieren. Sie können sie auch nicht stoppen.

Kinder und Jugendliche mit suchtkranken Eltern gibt es viele. In Deutschland lebt schätzungsweise jedes sechste Kind in einer Familie, in der Vater oder Mutter - oder sogar beide - trinken oder Drogen nehmen. Für Kinder ist es schlimm, unter solchen Bedingungen aufzuwachsen. Aus Scham halten sie den Mund und sprechen mit niemandem über das Suchtproblem ihrer Eltern. Nicht mit Freunden. Nicht mit Verwandten. Nicht mit Lehrern. Sie schlucken ihre Gefühle runter. Würden sie sie ausdrücken, könnte es gefährlich werden: böse Worte, Schreien, Fluchen, Schläge. Suchtkranke sind oft nicht berechenbar, sobald sie trinken oder Drogen nehmen. Und die Kinder lernen, dass dann Alarmstufe rot angesagt ist. Viele haben völlig verwirrte Gefühle für ihre Eltern. Sie lieben sie, weil es ihre Eltern sind. Sie hassen sie, weil sie suchtkrank sind. Und oft lieben und hassen sie ihre Eltern zur selben Zeit. Vielleicht denken sie dann, dass sie verrückt sind, weil sie so völlig gegensätzliche Gefühle auf einmal haben. Aber die Wahrheit ist, dass die Kinder in einer komplett verrückten Situation leben. Darauf mit verwirrten Gefühlen zu reagieren, ist völlig normal.

Man könnte glauben, dass ein Mensch, der in seiner Kindheit unter den Folgen von Alkoholismus oder Drogensucht in der Familie gelitten hat, niemals selber ein Suchtmittel anrühren würde. Fehlanzeige. Gerade die Kinder von Alkoholikern und anderen Süchtigen haben ein hohes Risiko, später selber von einem Suchtmittel abhängig zu werden. Warum ist das so? Das hängt unter anderem damit zusammen, dass sie die Elchregel so gut gelernt haben: Klappe halten! Nichts und niemandem vertrauen! Gefühle runterschlucken! Doch Gefühle ständig runterzuschlucken, ist gefährlich. Sie bleiben im Körper, und das tut irgendwann weh. Um diesen Schmerz zu betäuben, greifen viele Kinder suchtkranker Eltern irgendwann selber zu Alkohol oder Drogen.

Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen aus suchtkranken Familien wird nicht selber suchtkrank. Um das zu schaffen, ist es für sie wichtig, dass sie um die besonders große Gefahr wissen, die Alkohol oder Drogen für sie darstellen. Denn dann können sie sich entsprechend verhalten. Wer sich bewusst entscheidet, die Finger vom Alkohol und anderen Suchtmitteln zu lassen, ist auf der sicheren Seite.

Um sich vor der Gefahr einer eigenen Sucht zu schützen, ist es auch wichtig,     
die Elchregel wieder zu verlernen. Das geht am besten, indem die Jugendlichen Menschen suchen und finden, zu denen sie Vertrauen haben, mit denen sie über alles reden können, was sie fühlen und was sie bewegt. Solche sicheren Leute können z. B. die Oma, Verwandte, Lehrerinnen, Sporttrainer oder Jugendgruppenleiter sein. An vielen Orten gibt es auch spezielle Gruppen für Jugendliche mit Suchtproblemen im Elternhaus. Das sind sichere Orte für Kinder suchtkranker Eltern - garantiert elchfreie Zonen. Wo solche Gruppen zu finden sind, erfährst du hier.
 

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