Gesellschaftliche Wahrnehmung: Kinder aus suchtbelasteten Familien

Überblick 
 

1.    Der lange Weg in die Bundespolitik
2.    Ein Meilenstein: die Ergebnisse der Arbeitsgruppe Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern (AG KpkE)
3.    Das neue KSJG – was ändert sich für Kinder aus suchtbelasteten Familien? 
4.    CORONA – Welche Bedeutung hat(te) die Pandemie für Kinder suchtkranker Eltern?
5.    Ausblick
6.    Quellen

In Deutschland haben über 3 Millionen Kinder und Jugendliche mindestens einen suchtkranken Elternteil. Der Alltag betroffener Kinder und Jugendlicher ist geprägt von ständiger Angst und Unsicherheit sowie einem Mangel an emotionaler Nähe und Geborgenheit. Viele erfahren Vernachlässigung, Missbrauch oder Gewalt. Diese enormen Belastungen in Kindheit und Jugend hinterlassen tiefgreifende Spuren bei Betroffenen, die auch im Erwachsenenalter noch nachwirken können: Häufig entwickeln sie psychische oder anderweitige gesundheitliche Probleme und auch die schulische Bildung (und somit auch der spätere beruflich Erfolg) wird in Mitleidenschaft gezogen. Kinder suchtkranker Eltern sind außerdem eine Hochrisikogruppe für eigene Suchterkrankungen. 

Gemessen an der Zahl betroffener Kinder, gibt es in Deutschland deutlich zu wenig Hilfeangebote. So kommen auf jedes der etwa 200 Hilfeangebote im Schnitt 15.000 Kinder. Zudem gibt es starke regionale Unterschiede in der Hilfelandschaft.

In den letzten Jahren ist die Problematik Kinder aus suchtbelasteten Familien zunehmend in den Fokus gesellschaftlicher Wahrnehmung und der Politik gelangt. Damit einher gingen und gehen diverse Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der betroffenen Kinder und Familien. Insbesondere hervorzuheben sind hierbei der Entschließungsantrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN im Jahre 2017 und die darauffolgende Einrichtung der Arbeitsgruppe „Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern“ (KpkE) sowie das Inkrafttreten des neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes 2021. Auf diese Meilensteine wird in den folgenden Beiträgen näher eingegangen. Auch werden die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Lebenssituation der Kinder aus suchtbelasteten oder –gefährdeten Familien näher beleuchtet – und Schlussfolgerungen gezogen, u.a. für die Notwendigkeit der Bereitstellung von Online-Beratungsangeboten. 
 

1. Der lange Weg in die Bundespolitik

Ende der 1970er Jahre geriet die Problematik der Kinder aus alkoholkranken Familien in den USA verstärkt in das Blickfeld der Forschung. Es dauerte bis Ende der 80er Jahre, bis das Thema auch in Deutschland in Fachkreisen diskutiert wurde und die Ergebnisse der amerikanischen Untersuchungen von deutschen Verlagen in Übersetzung herausgebracht wurden. 

Es folgten Publikationen deutscher Autorinnen und Autoren.

Seit den 2000ern beschäftigte man sich in Deutschland verstärkt mit der Thematik der COAs (children of alcoholics/addicts). 2003 wurde im Rahmen einer Fachtagung der damaligen Bundesdrogenbeauftragten, Marion Caspers-Merk, 10 Eckpunkte zur Verbesserung der Situation von Kindern aus suchtbelasteten Familien verabschiedet – die bis heute nichts an Aktualität eingebüßt haben. 

Wissenschaftlich unterlegt wurde die Problematik bzw. das hohe Risiko der Kinder, in späterem Lebensalter selbst eine Abhängigkeit und/oder eine weitere psychische Störung zu entwickeln, durch die Forschung und Publikationen von Prof. Michael Klein an der KATHO (Katholische Fachhochschule für angewandte Sozialwissenschaften in Köln). In der Zeit seines Wirkens - seit Mitte der 90er Jahre - wurden an der KATHO verschiedene Programme und Trainings für Kinder und insbesondere auch für ihre suchtkranken Eltern konzipiert und evaluiert, so z.B. das evidenzbasierte Programm Trampolin für Kinder oder das Elterntraining SHIFT plus.

Die Programme sowie zahlreiche Vorträge Michael Kleins auf Fachveranstaltungen führten dazu, dass sukzessive die Fachöffentlichkeit, v.a. Mitarbeitende aus dem Suchthilfe-, aber auch dem Kinder- und Jugendhilfebereich, für den Hintergrund ihrer Klient:innen sensibilisiert wurden. -  Eine Sammlung entsprechender Vorträge, Artikel und Fachbücher findet sich auf der Seite www.addiction.de 

In enger Kooperation mit der KATHO bzw. Michael Kleins entstand 2003 auch das Online-Beratungsangebot KidKit der Drogenhilfe Köln. 

Eine zunehmend politische Dimension erhielt das Thema nicht zuletzt durch die Gründung von NACOA Deutschland im Jahr 2004 durch Henning Mielke und Mitstreitende. Er initiierte in Folge die jährlich stattfindende COA-Aktionswoche (seit 2007), veröffentlichte einschlägige Artikel und Radiofeatures (z.B. Größter anzunehmender Unfall/ Extrablick Kinder aus suchtbelasteten Familien/ Sozial Extra 1 2018: 26-30), zeichnete Positionspapiere (NACOA-Positionspapier Empfehlungen zur Unterstützung von Kindern aus suchtbelasteten Familien) und betrieb Lobbyarbeit. Somit wurden auch die gesundheits- und suchtpolitischen Sprecher:innen der Fraktionen für die vernachlässigte, wiewohl hochgradig gefährdete Gruppe der COAs sensibilisiert. Langsam nahm die Bundespolitik die Brisanz des Themas Kinder aus Suchtfamilien in ihrer gesundheits-, sozial- und bildungspolitischen sowie demographischen Dimension wahr. Dass das Aufwachsen mit suchtkranken Eltern immense soziale Folgekosten nach sich zieht, beschrieb z.B. der Ökonom Tobias Effertz in einem Artikel von 2017 [1] (Kinder aus Suchtfamilien. Die ökonomische Dimension eines kaum beachteten Problems).

In ihrer Zeit als Bundesdrogenbeauftragte griff insbesondere Marlene Mortler das Thema auf. So richtete sie ihre Jahrestagung 2017 unter dem Titel „Die Kinder aus dem Schatten holen“ aus, gab Broschüren und Plakate heraus,  auch zum angrenzenden Thema FASD. 

Drogenbeauftragte der Bundesregierung (Hg.) (2017): Die Fetale Alkoholspektrumstörung. Die wichtigsten Fragen der sozialrechtlichen Praxis. Berlin. 

Drogenbeauftragte der Bundesregierung (Hg.) (2017): Stressreduktion bei FASD Betroffenen, deren Bezugspersonen und sozialer Umwelt durch Elterncoaching. Ein Handbuch zum Coaching von Bezugspersonen FASD Betroffener (Training für Trainer). Berlin

Drogenbeauftragte der Bundesregierung (Hg.) (2017): Fetale Alkoholspektrumstörung – und dann? Ein Handbuch für Jugendliche und junge Erwachsene. Berlin.

Auf Landesebene war nur in einzelnen Bundesländern ein politischer Wille erkennbar, längerfristig Hilfestrukturen für COAs finanziell zu fördern (insbesondere Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Thüringen). In der Mehrheit der Bundesländer hatte das Thema keinen hohen Stellenwert auf der sozialpolitischen Agenda – sicherlich auch in Anbetracht der Finanznot der Kommunen. Die Hilfelandschaft glich und gleicht immer noch einem Flickenteppich – mit großem Ungleichgewicht zwischen den Ländern, aber auch zwischen städtischem und ländlichem Gebiet. Erst in jüngerer Zeit werden z.B. verstärkt Angebote auch in den neuen Bundesländern ins Leben gerufen. Eine genaue Anzahl aller derzeit vorhandenen Angebote gibt es nicht; schätzungsweise existieren 200 Hilfeangebote. Das heißt, dass ein Angebot auf ca. 15.000 betroffene Kinder kommt (Artikel Henning Mielke: Ein Netz mit weiten Maschen).

Auf Landesebene sind auch die Bildungspolitiker:innen gefordert. Denn Kindergärten und Schulen kommt bei der Unterstützung von COAs eine Schlüsselstellung zu, weil hier potenziell alle Kinder erreicht werden können - unabhängig davon, ob die Eltern für ihre Suchterkrankung Hilfe suchen oder nicht. Um sicherzustellen, dass jede Pädagogin und jeder Pädagoge in Deutschland ein Grundverständnis von COAs hat und weiß, wie sie unterstützt werden können, auf welche Art und Weise ggf. Eltern angesprochen werden könnten etc., sollten entsprechende Kenntnisse unbedingt in die Ausbildungscurriculae einfließen. 
 

2. Ein Meilenstein: die Ergebnisse der Arbeitsgruppe Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern (AG KpkE)

Um die Situation der Kinder und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien zu verbessern, schlossen sich 2014 neunzehn Fachverbände zusammen und stellten beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie dem Bundesministerium für Gesundheit einen Antrag auf die Einrichtung einer Sachverständigenkommission zum Thema „Hilfen für Kinder und Familien mit psychisch kranken Eltern“. Damit wurde ein Prozess angestoßen, der schließlich dazu führte, dass im Juni 2017 ein interfraktioneller Entschließungsantrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN verabschiedet wurde

In dem Antrag forderte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung dazu auf, „eine zeitlich befristete interdisziplinäre Arbeitsgruppe unter Beteiligung der zuständigen Bundesministerien […], relevanter Fachverbände und -organisationen sowie weiterer Sachverständiger einzurichten, die einvernehmlich Vorschläge zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil psychisch erkrankt ist, erarbeitet und dabei auch auf die Auswirkungen und Möglichkeiten des bereits in Kraft getretenen Präventionsgesetzes eingeht.“[2] 
In diesem Rahmen sollten Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten sowie rechtliche Rahmenbedingungen geklärt und Schnittstellen zwischen den verschiedenen Sozialgesetzbüchern und Handlungsbedarfe zu den vorgegebenen Untersuchungsschwerpunkten identifiziert werden. Des Weiteren sollten Aufklärungsmaßnahmen für Bevölkerung, betroffene Kinder und Familien und Fachkräfte beschlossen werden. Außerdem wurde eine Verankerung des Themas in der Aus- und Weiterbildung von Professionen, die an der Versorgung von Kindern und deren psychisch erkrankten Eltern beteiligt sind, festgelegt.

Diese so ins Leben gerufene Arbeitsgruppe „Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern“ tagte im März 2018 zum ersten Mal und legte dem Deutschen Bundestag im Dezember 2019 schließlich insgesamt 19 Empfehlungen zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus psychisch und suchterkrankter Familien vor.

Abschlussbericht der AG Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern
Stellungnahmen der AG Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern

Empfehlungen 1 bis 6 sowie Empfehlung 19 haben eine Verbesserung in den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe zum Ziel. Empfehlungen 7 bis 12 beziehen sich auf die Verbesserung der präventiven Leistungen für Kinder und Jugendliche in Hinblick auf die Umsetzung des Präventionsgesetzes. Empfehlungen 13 bis 18 zielen auf eine verbesserte Kooperation der Jugendhilfe, dem Gesundheitswesen und der Suchthilfe im Sinne einer verbesserten, interdisziplinären Schnittstellenarbeit.

Die Arbeitsgruppe fand sich im März 2020 zu einer Abschlussveranstaltung zusammen und es war geplant, auf die Empfehlungen möglichst zügig auch Taten folgen zu lassen. Angesichts der Corona-Pandemie priorisierte die Politik andere Themen, und die 19 Empfehlungen rückten zeitweilig in den Hintergrund.[3] Zugleich kam es zu einer Verschärfung der Lage der Betroffenen sowie der Situation der Hilfeangebote (mehr zu dem Thema Pandemie und Sucht).

2021 unternahmen es BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, im Rahmen einer kleinen Anfrage den Stand der Umsetzungen der Empfehlungen der Arbeitsgruppe Kinder psychisch und suchtkranker Eltern zu eruieren. Die Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage findet sich in Drucksache 19/31602 vom 19.07.2021.

Eine aktuelle Übersicht über den Stand der Umsetzung der einzelnen Empfehlungen bietet die Lektüre des Artikels „Hilfe für Kinder psychisch und suchterkrankter Eltern“ (F. Gebhardt, 2022), erschienen im Fachportal KONTUREN online:

„Trotz der neuen Herausforderungen und Einschränkungen, welche die Pandemie mit sich brachte, blieb das Engagement vieler Akteure, die sich für das Wohl der Kinder aus psychisch und suchtbelasteten Familien einsetzen, weiterhin groß. Deshalb konnten Empfehlungen teilweise schon umgesetzt oder mit ihrer Umsetzung konnte begonnen werden“ (F. Gebhardt, 2022).[3] 

Ob diese Hilfen wirklich vor Ort bei den Betroffenen ankommen, wird sich allerdings erst in der Anwendung offenbaren. Um die rechtliche Anpassung durchzusetzen und die Vernetzung voranzutreiben und zu verstetigen, braucht es konkrete Aufträge auf bundes- sowie landespolitischer Ebene. Weiterhin bedarf es der Aufdeckung und Bereitstellung von praktikablen, langfristigen Finanzierungswegen. Es muss sichergestellt werden, dass die Hilfen die Betroffenen auch erreichen, dazu benötigt es auch einer Überprüfung der Wirksamkeit der Hilfen. Darüber hinaus bedarf es einer stärkeren interdisziplinären, systematischen und politischen Schwerpunktsetzung auf Bundesebene und einer interministeriellen Begleitung der einzelnen Implementierungsschritte. 

„Deshalb fordert NACOA Deutschland e.V. gemeinsam mit neun anderen Fachverbänden und Organisationen einen abgestimmten Monitoring- und Evaluationsprozess, der system- und rechtsübergreifend sowie unter Berücksichtigung der Länder- und kommunalen Ebene geplant und umgesetzt werden soll. Dabei darf ein klarer Bezug zur Selbsthilfe nicht vergessen werden. In Gesprächen mit Politiker:innen, wie z. B. im Rahmen der Podiumsdiskussion zur COA-Aktionswoche 2022, wurde und wird deutlich, dass seitens der Ampel-Koalition weiterhin großes Interesse vorhanden ist, die Situation für suchtbelastete Familien zu verbessern. Durch die Corona-Pandemie, den Cannabis-Legalisierungsprozess, den Ukraine-Krieg und weitere aktuelle Themen, die momentan stark im Vordergrund stehen, ist eine kontinuierlich starke Stimme aus der Fachwelt besonders nötig, um das Thema „Suchtbelastete Familien“ auf der Agenda der Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik zu halten und voranzubringen. Eine eindringliche Empfehlung an alle Fachkräfte, Mitarbeitende an Schnittstellen und Betroffene ist daher: Schließen Sie sich in Netzwerken zusammen, betreiben Sie Lobby- und Advocacyarbeit, sprechen Sie mit Politiker:innen und Entscheidungsträger:innen und werden Sie gemeinsam laut!“ (F. Gebhardt, 2022)[3]
 

3. Das neue KJSG – was ändert sich für Kinder aus suchtbelasteten Familien?

Seit dem 10. Juni 2021 ist das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) in Kraft. Was ändert sich für die Situation und Belange der Kinder suchtkranker Eltern?[4][5]

  • Beratung: Kinder und Jugendliche haben nun einen elternunabhängigen Beratungsanspruch gegenüber dem Jugendamt: Aufgrund der Neuregelung erhalten Kinder und Jugendliche nach Wegfall der Voraussetzung des Vorliegens einer Not- und Konfliktlage einen uneingeschränkten Anspruch auf Beratung der Kinder- und Jugendhilfe auch ohne Kenntnis ihrer Eltern. Solch ein uneingeschränkter und niedrigschwelliger Zugang kann insbesondere dann von elementarer Bedeutung sein, wenn Kinder und Jugendliche bei Eltern aufwachsen, die suchtkrank sind, keine Krankheitseinsicht haben oder sich für Hilfen und Unterstützung ihrer Kinder nicht einsetzen wollen oder können. 
  • Prävention: Die Prävention wird gestärkt, so können unter anderem Hilfen zur Erziehung deutlich früher und unkomplizierter in Anspruch genommen werden. Die Umsetzung wird kommunal unterschiedlich ausfallen: insbesondere, aber nicht ausschließlich, kommen Erziehungsberatungsstellen in Betracht - aber auch ambulante Hilfen, Eltern-Kind-Zentren etc. 
  • Eine vorherige Konsultation des Jugendamtes durch die Eltern, wie sie gerade für suchtbelastete Familien häufig zur Herausforderung wird, ist nicht mehr erforderlich. Ziel ist es, dass betroffene Familien auf unbürokratischem Weg Hilfen zur Bewältigung ihres Alltags erhalten.
  • Die Aufgabe der Meldung von Anzeichen auf Kindeswohlgefährdung verschiedener Berufsgeheimnisträger:innen wird deutlicher hervorgehoben: Wer professionell mit Kindern Umgang hat, ist künftig daran beteiligt, bei gewichtigen Anhaltspunkten einer Kindeswohlgefährdung das Jugendamt zu informieren. Dies betrifft u.a. Ärzt:innen, medizinisches Fachpersonal, Lehrkräfte oder andere pädagogische Fachkräfte. Zukünftig werden Fachkräfte, die das Jugendamt über gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung informieren, auch eine Rückmeldung erhalten (§ 4 Abs.4 KKG, § 8a). 
  • Familie als Ganzes im Blick: Vorgesehen ist eine erweiterte Kooperation der Kinder- und Jugendhilfe mit Gesundheitswesen (z.B. Ärzt:innen sowie Psychotherapeut:innen – die der Kinder und die der Eltern), Strafverfolgungsbehörden, Familiengerichten (§ 50 Abs.2), Jugendstrafjustiz und anderen wichtigen Akteur:innen im Kinderschutz. Durch stärkere und strukturiertere Zusammenarbeit soll die Familie als Ganzes im Blick behalten werden.

4. CORONA – Welche Bedeutung hat(te) die Pandemie für Kinder suchtkranker Eltern?

Slogans wie „Bleiben Sie zu Hause!“ im Zuge der Corona-Pandemie sollten der Eindämmung des Virus dienen, bedeuteten für Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien aber oftmals eine drastische Verschlechterung ihrer Lebenssituation. 

Für sie stellten die Pandemie und die Maßnahmen zu deren Bekämpfung, wie Lockdowns und Kontaktbeschränkungen, eine immense Belastung dar. 

Und dies in vielerlei Hinsicht:

Zum einen durch den Zusammenbruch jedweder Struktur. Suchtkranken Eltern fällt es generell schwer, eine Struktur aufrechtzuerhalten. Mit dem Wegfall äußerer Gegebenheiten, die teilweise eine Struktur vorgeben (wie das Einhalten eines „normalen“ Schlaf-Wach-Rhythmus durch die Schulpflicht der Kinder) oder substituieren (wie ein regelmäßiges und gesundes Essen in der schulischen (Nach-)Betreuung), fiel auch die familiäre Struktur in sich zusammen (Kinder blieben sich selbst überlassen, einhergehend mit exzessiver und unkontrollierter Nutzung der neuen Medien oder von Online-Spielen; Gewichtszunahme durch Bewegungsmangel und Junk-Food; hierdurch wiederum Mobbing etc.). Einhergehend mit den Schulschließungen zeigte sich auch, dass suchtkranke Eltern, die sowieso oftmals Schwierigkeiten haben, ihre Kinder in schulischer Hinsicht zu unterstützen und zu fördern (wie z.B. Hausaufgaben mitbetreuen, kontrollieren, Nachhilfe organisieren und finanzieren), mit dem Homeschooling in Gänze überfordert waren (Kinder verschliefen den Unterricht, Eltern waren nicht in der Lage, digitale Hilfsmittel bereitzustellen oder zu organisieren, Kinder anzuhalten, die Hausaufgaben zu absolvieren etc.) [6]

Gleichzeitig verstärkte das Homeschooling bzw. die Schließung von Bildungs- und Freizeiteinrichtungen die Isolation der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Zur inneren Isolation, die das Leben von Kindern aus suchtkranken Familien schon vor der Pandemie prägte, kam nun noch die äußere hinzu. Unter Bezugnahme auf Wolin und Wolin (1995)[7] kann man feststellen, dass einige der wesentlichen Schutz- bzw. Resilienzfaktoren unter Pandemiebedingungen wegfielen: insbesondere Beziehungen außerhalb der Familie, die die Kinder zuvor noch im schulischen Rahmen, in der nachschulischen Betreuung oder in Freizeiteinrichtungen vorfinden konnten, Initiative, um sich zu entlasten und als selbstwirksam erleben zu können, sowie die Möglichkeit zur Distanzierung vom häuslichen Geschehen.

Das häusliche Geschehen war, insbesondere während der Lockdowns, geprägt durch einen hohen Stresslevel, einhergehend mit gestiegenem Alkohol- und Drogenkonsum und häuslicher Gewalt. Besonders deutlich wurde dies in den Anfragen an Onlineberatungsangebote wie denen von NACOA Deutschland und KidKit. „Die ratsuchenden Kinder  Jugendlichen litten (und leiden) zuhause unter der aggressiven Atmosphäre, die durch Angst, räumliche Enge, Home-Office und Home-Schooling, Jobverlust der Eltern und steigendendem Suchtmittelkonsum bedingt war. Folgeerscheinungen wie das (Mit-)Erleben häuslicher Gewalt, somit erneute bzw. Retraumatisierungen und soziale Isoliertheit führ(t)en zu erheblichen psychischen Mehrbelastungen, nicht selten zu Depressionen bis hin zur Suizidalität. Bereits vorhandene Erkrankungen und Symptome wie Essstörungen oder Selbstverletzungen droh(t)en sich zu manifestieren.“ (hausinterne Notiz, 2021).

Viele Kinder und Jugendliche suchten zunehmend Hilfe im Internet. 
Ausweich- und Entlastungsmöglichkeiten standen den Kindern und Jugendlichen – insbesondere in Phasen der Lockdowns - kaum zur Verfügung, so dass der/die Online-Berater:in oftmals eine:r der wenigen, mitunter der einzige Außenkontakt darstellt(e). NACOA Deutschland verzeichnete allein in den Monaten März und April 2020 eine Verdoppelung der E-Mail-Anfragen im Vergleich zum Vorjahr; die Anzahl der insgesamt von NACOA begleiteten Kinder und Jugendlichen stieg um knapp 40%. Auch während der zeitweiligen Rückkehr zum Normalbetrieb im Sommer 2020 fiel die Anzahl der ratsuchenden Kinder und Jugendlichen, der Mailanfragen und der Bedarf an Einzelchats im Vergleich zum Vorjahr signifikant höher aus. Im Frühjahr 2021 war die Zahl der E-Mail-Anfragen respektive die Anzahl der Antworten auf E-Mails immer noch bis zu 70% höher als im Vergleichszeitraum vor der Pandemie. 
Dem Onlineberatungsangebot kam somit eine wichtige Bedeutung zur Stabilisierung der betroffenen Minderjährigen während und nach der Pandemie zu.

Die COPSY-Studie

Insgesamt kam es aufgrund der Pandemie bzw. der damit einhergehenden Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen zu einem erheblichen Anstieg von psychischen Leiden:  

„Fast jedes dritte Kind leidet ein knappes Jahr nach Beginn der Pandemie unter psychischen Auffälligkeiten. Sorgen und Ängste haben noch einmal zugenommen, auch depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden sind verstärkt zu beobachten. Erneut sind vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Verhältnissen oder mit Migrationshintergrund betroffen“, sagte Prof. Dr. Ulrike Ravens-Sieberer, Leiterin der COPSY-Studie und Forschungsdirektorin der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik des UKE, in einer Pressemitteilung im Februar 2021. Weiter fasste sie die Ergebnisse der zweiten Befragung der sogenannten COPSY-Studie (Corona und Psyche), die Forschende des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) durchgeführt haben, zusammen: „Unsere Ergebnisse zeigen erneut: Wer vor der Pandemie gut dastand, Strukturen erlernt hat und sich in seiner Familie wohl und gut aufgehoben fühlt, wird auch gut durch die Pandemie kommen. Wir brauchen aber verlässlichere Konzepte, um insbesondere Kinder aus Risikofamilien zu unterstützen und ihre seelische Gesundheit zu stärken.“[8]

Dieser drastische Anstieg mentaler und gesundheitlicher Probleme bei Kindern und Jugendlichen erreichte seinen Höhepunkt 2020 und stagnierte etwa bis zum Frühling 2021 auf hohem Niveau.[9] 

Die COPSY-Studie in fünfter Auflage konnte im Herbst 2022 [9] endlich eine Verbesserung der psychischen/gesundheitlichen Situation von Kindern und Jugendlichen verzeichnen. Depressive Symptome haben mittlerweile zu Werten aus vor-pandemischen Zeiten zurückgefunden. Die meisten anderen psychischen Erkrankungen oder Symptome befinden sich aktuell im Rückgang, aber es ist noch ein langer Weg zu vor-pandemischen Verhältnissen. Auch psychosomatische Beschwerden, wie beispielsweise chronische Kopf- oder Bauchschmerzen persistieren weiterhin. [9]

Die Ergebnisse sind hier als Videobeitrag verfügbar.

Fazit: Die Auswirkungen der Pandemie zeig(t)en „wie unter dem Brennglas“ die Missstände: Kinder und Jugendliche aus Risikofamilien/Suchtfamilien erleben sich in Krisensituationen als besonders benachteiligt. 

Es bedarf eines regelfinanzierten und flächendeckenden Netzes an Hilfeangeboten. Diese umfassen Angebote vor Ort, Fachkräfte, die auch bei eingeschränkten Begegnungsmöglichkeiten den Kontakt halten, ggf. Einzelkontakte mit den Kindern und Jugendlichen durchführen, zumindest telefonisch erreichbar und für Gefährdungssituationen in den Familien sensibilisiert sind. 

Auch die Online-Beratung muss ausgebaut werden. Digitale Zugangswege sind überlebensnotwendig für Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien, erst recht, wenn die Elternteile keine Einsicht in ihre Erkrankung haben und/oder es zu häuslicher Gewalt kommt.

5. Ausblick

Ausbau der Online-Beratung

Aus den Erfahrungen der Pandemie und vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die beiden langjährigen Online-Beratungsangebote für Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien, nämlich das von NACOA Deutschland und KidKit (Drogenhilfe Köln), noch immer spenden- und projektfinanziert sind, schlossen sich die beiden Träger im Herbst 2021 zusammen. In einem Appell an die – zu diesem Zeitpunkt tagenden - Koalitionäre wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, verlässliche, dauerhaft institutionalisierte bundesweite Angebote politisch zu etablieren.

Tatsächlich finden sich im Koalitionsvertrag, der im Dezember 2021 von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), von BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP) unterzeichnet wurde, auf Seite 99 unter den beiden Überschriften „Kinder und Jugend“ und „Kinderschutz“ entsprechende Vorhaben wieder: 

„Wir werden Angebote der Jugendhilfe bei der Digitalisierung unterstützen. [...] 

Wir unterstützen die Kinder von psychisch, sucht- oder chronisch kranken Eltern. [...]

Wir wollen Prävention und Kinderschutz stärken […]. […]

Das Telefon- und Onlineberatungsangebot des Bundes werden wir finanziell absichern.“

Ein erstes gemeinsames Projekt von KidKit und NACOA (das Verbundprojekt „Startphase – Hilfen im Netz“; Laufzeit 01.09.2022 – 31.01.23), gefördert vom Bundesministerium für Gesundheit, beinhaltete die Vorbereitung der Umsetzung der Empfehlung Nr. 6 der AG „Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern“ (KpkE): „Ausbau und Förderung einer bundesweit öffentlichkeitswirksam präsentierten, wissenschaftlich evaluierten, umfassend barrierefreien Online-Plattform, die Informationen und anonyme Beratung für betroffene Kinder und Jugendliche, die sich selbstständig im Internet auf die Suche nach Hilfe machen, bietet und für diese, wie auch für Fachkräfte, Möglichkeiten für wohnortnahe Hilfen über eine Postleitzahlenrecherche aufzeigt.“

Ein wesentlicher Baustein innerhalb des Projekts war die Entwicklung einer gemeinsamen Landing-Page. Auf www.hilfenimnetz.de sind die Angebote der Plattformen kidkit.de und nacoa.de übersichtlich und grafisch ansprechend dargestellt und jeweils passend verlinkt, sodass Hilfesuchende (Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus sucht-, gewalt- und psychisch belasteten Familien) schnell Zugänge wahrnehmen können. 

Monitoring der Umsetzung der Empfehlungen der AG KpkE

Weiterhin gilt es, die Umsetzung der 19 Empfehlungen der AG KpkE im Verbund mit anderen Fachverbänden zu begleiten bzw. zu forcieren. Im Fachgespräch des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und des Ausschusses für Gesundheit zur Verbesserung der Situation von Kindern und Familien mit psychisch- und suchtkranken Eltern am 14.12.2022 wurden die Notwendigkeiten für eine bedarfsgerechte Weiterentwicklung der Hilfen für Kinder psychisch kranker und suchtkranker Eltern und qualitative Umsetzung der Empfehlungen der AG Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern (AG KpkE) zum Thema gemacht.

Die Zielgruppe der erwachsenen Kinder aus suchtbelasteten Familien

Während die Notwendigkeit, betroffenen Kindern und Jugendlichen präventiv Hilfeangebote zur Verfügung zu stellen, damit sie später nicht ebenfalls erkranken müssen, zunehmend Einzug ins gesellschaftspolitische Bewusstsein hält, stellen die (heute) erwachsenen, ehemals betroffenen Kinder eine noch viel größere und bislang kaum wahrgenommene Gruppe dar. So sind schätzungsweise 6 Mio. Erwachsene als Kinder in suchtbelasteten Familien aufgewachsen (Pfeiffer-Gerschel et al., 2013) [11] und haben die belastenden, teils traumatischen Erfahrungen ins Erwachsenenalter mitgenommen. Dort bestimmen sie wesentliche Lebensbereiche wie Gesundheit, Arbeits- und Beziehungsfähigkeit in oftmals schädlicher Weise (vgl. Flassbeck & Barth, 2020) [12]. Die Zielgruppe der Erwachsenen Kinder (EKS) gilt es verstärkt anzusprechen und hier ein Selbsthilfenetzwerk aufzubauen.

NACOA-Infoblatt: Politische Dokumente

6. Quellen

[1]Effertz, T. (2017). Kinder aus Suchtfamilien: die ökonomische Dimension eines kaum beachteten Problems. Frühe Kindheit, 17 (1), 35–42.

[2]Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN (2017). Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern

[3]Gebhardt, F. (2022) Hilfe für Kinder psychisch und suchterkrankter Eltern. Konturen.     https://www.konturen.de/fachbeitraege/hilfe-fuer-kinder-psychisch-und-s…

[4]Kabinettsbeschluss für neues Kinder- und Jugend­stärkungsgesetz (KJSG)  (2020)     https://www.bundesdrogenbeauftragter.de/presse/detail/kabinettsbeschlus…;  jugendstaerkungsgesetz-kjsg/

[5]Lautenbach, H. (2021) Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - Was ändert sich konkret? https://awo.org/kinder-und-jugendstaerkungsgesetz-was-aendert-sich-konk…

[6]Oswald, C. (2022). Statement im Rahmen der Podiumsdiskussion „Kindheit und Jugend heute: Von einer Krise in die nächste? Wie packen wir es an?“ am 5.10.2022

[7]Wolin S, Wolin S. (1995). Resilience among youth growing up in substance-abusing families. Substance Abuse; 42: 415 – 429

[8]https://www.uke.de/allgemein/presse/pressemitteilungen/detailseite_1040…

[9]Ravens-Sieberer, U., Devine, J., Napp, A. K., Kaman, A., Saftig, L., Gilbert, M., ... & Erhart, M. (2022). Three years into the pandemic: Results of the longitudinal German COPSY study on youth mental health and health-related quality of life

[10]Studie des Deutschen Jugendinstituts in einem Bericht des ZDF –Vereinsamung im Shutdown – Kinder – vergessen in der Pandemie von Laura Rosinius vom 4.03.2021

[11]Pfeiffer-Gerschel, T., Kipke, I., Flöter, S. & Jakob, L. (2013). Bericht 2013 des nationalen REITOX-Knotenpunkts an die EBDD. Neue Entwicklungen und Trends. Drogensituation 2012/2013. München: Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht DBDD.

[12]Flassbeck, J. & Barth, J. (2020). Die langen Schatten der Sucht. Behandlung komplexer Traumafolgen bei erwachsenen Kindern aus Suchtfamilien. Stuttgart: Klett-Cotta.

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